Professor Wolfram Wette
Heinz Drossel – die Selbstverständlichkeit des aktiven Anstands
„Haben Sie sich damals, in der NS-Zeit, als Widerstandskämpfer gesehen? Und fühlen Sie sich heute als ein Held?“ So fragte ich Heinz Drossel im September des Jahres 2000, bei einem unserer ersten Gespräche in Simonswald. Er hatte gerade die höchste Ehrung in Empfang genommen, die der Staat Israel vergibt, nämlich den Titel Gerechter unter den Völkern.
Heinz Drossel, dem alten Herrn, war meine Frage offensichtlich unangenehm. Er wollte nicht, dass von seinen Rettungstaten Aufhebens gemacht wird. „Nein“, sagte er nach einigem Überlegen, „Widerstand habe ich nicht geleistet“. Dann fügte er hinzu: „Ich möchte meiner Eltern gedenken. Durch ihre Erziehung war es eine Selbstverständlichkeit für mich, meinen Freunden zu helfen.“ Eine Selbstverständlichkeit also. Eine normale menschliche Reaktion. Nichts Besonderes.
Heinz Drossel hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vier Jahrzehnte lang über sein Verhalten in den Jahren 1939 bis 1945 geschwiegen. Es gewann den bestimmenden Eindruck, dass sich in seinem Umfeld niemand für seine Geschichte interessierte, ja im Gegenteil, dass man sie abwehrte. Erst nach seiner Pensionierung als Präsident des Sozialgerichts in Freiburg im Jahre 1981 ging er daran, einen autobiographischen Text zu verfassen. Er gab ihm den Titel „Die Zeit der Füchse“. Das Desinteresse wiederholte sich. Kein Verlag wollte das Manuskript haben. So musste der Autor sein Buch 1988 im Selbstverlag herausbringen.
Seine Hilfe- und Rettungstaten deutete Drossel in seiner Autobiographie nur an. Die Rettung der jüdischen Familie Hesse im Frühjahr 1945 in Berlin erwähnte er eher beiläufig. So blieb es einem der Geretteten vorbehalten, ein Zeugnis abzulegen. Ernest Günter Fontheim, zwischenzeitlich ein bekannter Physiker in den USA, ergriff die Gelegenheit, sich nach mehr als 40 Jahren bei seinem Retter, der inzwischen sein enger Freund geworden war, in einem Vorwort zu diesem Buch öffentlich zu bedanken:
„Die Reaktion der drei Familienmitglieder Drossel auf unseren Hilferuf steht mir noch heute lebhaft vor Augen. Sie boten uns ihre Hilfe ohne jegliches Zögern und in der wärmsten Form an. [...] In seiner Beschreibung dieser Episode in seiner Autobiographie erwähnt Heinz Drossel nicht mit einem Wort, welches Risiko er und seine Eltern mit unserer Rettung eingingen. Ich kann heute ohne jede Einschränkung sagen, dass die selbstlose Hilfsbereitschaft der Familie Drossel für mich der freudigste Anblick in den ansonsten schwarzen Jahren des Untergrundlebens war [...].“
Heinz Drossel, einst Oberleutnant der Wehrmacht, war einer der wenigen deutschen Soldaten, die unter den extremen Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur und des hasserfüllten Antisemitismus jener Zeit das Wagnis eingingen, verfolgten Juden zu helfen und sie zu retten. Er ließ auch einen gefangen genommenen Politkommissar der Roten Armee laufen und rettete ihm damit das Leben. Er schützte russische Kriegsgefangene vor der Ermordung. Eigene Kameraden nahm er vor der Willkür von Vorgesetzten in Schutz. Er praktizierte aktiven Anstand in einer von Gewalt geprägten Welt.
Damals, in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, wurden Loblieder auf Kriegshelden gesungen. Je mehr Feinde ein deutscher Soldat getötet und je mehr Kriegsgerät und Infrastruktur der Feinde er zerstört hatte, desto mehr Orden, Ehrenzeichen und Beförderungen erhielt er. Nicht wenige Angehörige der Kriegsgeneration blieben noch lange Jahrzehnte in diesem Denken befangen.
Jüngere Menschen reagierten auf die Präsentation solcher Kriegshelden jedoch mit zunehmender Ablehnung. Sie glaubten, in einer Demokratie und in einer zivilen Gesellschaft benötige man keine (Kriegs-)Helden. Man muss wissen: In den beiden Weltkriegen war der Begriff des Helden zunehmend inhaltslos und zudem inflationär geworden: Jeder tote Soldat wurde von der Kriegspropaganda automatisch als Held bezeichnet. Noch heute kann man diese Form des Heldengedenkens auf fast jedem deutschen Friedhof finden.
Lange hat es gedauert, bis unsere Gesellschaft bereit war, diejenigen Menschen anzuerkennen, die Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime, gegen den Krieg und gegen die Judenmorde geleistet hatten. Was Heinz Drossel während des Krieges getan hat, würdigen wir heute als Rettungswiderstand. Zivilcourage betrachten wir als ein Kernelement der demokratischen Gesellschaft. Daher können wir uns diejenigen Menschen zum Vorbild nehmen, die damals gegen den Strom schwammen und Widerstand leisteten. Sie handelten menschlich, praktizierten aktiven Anstand, waren solidarisch mit Verfolgten und gingen bei alledem ein hohes Risiko für das eigene Leben ein.
Sowohl Heinz Drossel als auch die anderen Retter sahen ihre Taten als selbstverständlich an. Sie wollten nicht als Helden gelten. Aus der Opfersicht, beispielsweise der des Holocaust-Überlebenden Arno Lustiger, ist Heinz Drossel ein Held des Rettungswiderstands. Was könnte uns hindern, uns dieser Sicht anzuschließen?
Von Professor Dr. Wolfram Wette, Am Moosrain 1, 79183 Waldkirch-Kollnau,
Historisches Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
Leiter des Projekts der Historischen Friedensforschung „Empörte, Helfer und Retter aus der Wehrmacht“,
Waldkirch, den 4. Februar 2009.