Dr. Helmut Strittmatter, ehemaliger Schulleiter des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Waldkirch
Montag, 29. Januar 2001, Großer Musiksaal, 11.00 Uhr, ca. 150 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 10 und 12 des Geschwister-Scholl-Gymnasiums sitzen gespannt wartend auf halbkreisförmig angeordneten Stühlen, vorne, Richtung Fensterfront, etwas verloren aufgestellt, ein kleiner, rechteckiger Tisch – so betraten damals ein mit fast 85 Jahren noch sehr rüstiger Mann mit drahtigem Schritt, mit hellen, wasser-blauen Augen und kurzen, streng gekämmten, gepflegten grauen Haaren, mit weißem Rollkragenpullover und grauem Anzug und ich als Schulleiter, erst ein Jahr in diesem Amt, den Musiksaal des GSG.
Heinz Droßel, der aus einer Familie stammte, in der die Ehrfurcht vor dem Menschen an erster Stelle stand, berichtete in seiner klaren, beeindruckend bildhaften Sprache u.a. wie er 1942 eine junge jüdische Frau mit einem kleinen Jungen rettete, die sich in völliger Verzweiflung von der Jungfernbrücke in Berlin stürzen wollte und die er nach Kriegsende heiratete. Wie er schließlich eine vierköpfige jüdische Familie im Gartenhaus seiner Eltern vor dem Zugriff der Gestapo versteckte und sie so vor dem sicheren Tod rettete. Im Krieg gegen Russland wurde er zum ersten Mal mit dem Leid der jüdischen Bevölkerung und den Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert. Er musste mitansehen, wie ein kleiner Junge hilflos und allein am Rande eines Massengrabes stand, durch einen Kopfschuss hingerichtet und mit einem Fußtritt in die Grube befördert wurde. Von diesem Zeitpunkt an hatte er sich geschworen, nie einen Befehl auszuführen, der Menschen in den Tod führen sollte und so hatte er einen russischen Kommissar nach der Gefangennahme vor der sicheren Hinrichtung bewahrt, als er ihm in einem Waldstück auf russisch befahl: „abzuhauen und so schnell zu laufen, wie er nur könne“, aber nicht ohne ihm vorher den russischen Frontverlauf zu erklären.
Gebannt folgten Schülerinnen und Schüler wie Lehrer den Ausführungen von Heinz Droßel, wie aufrichtig und mutig hier ein 85-jähriger Mann mit einer tief menschlichen Gesinnung, selbst sichtbar ergriffen von der Erinnerung, über die dunkelsten Kapitel unserer deutschen Geschichte berichtete. Ein Wehrmachtsoffizier, der in gefährlicher Zeit sein Leben für seine Mitmenschen aufs Spiel gesetzt hatte – vor allem für jüdische Mitbürger, die er vor der Gestapo versteckte und ihnen so das Leben rettete. Ein Mensch, der glaubhaft und überzeugend jene Worte auch in schlimmster Zeit gelebt hatte, die ihm sein Vater anlässlich der Erstkommunion am 7. April 1929 mit auf den Weg gegeben hatte:
„Bleib immer ein Mensch, mein Junge, und anständig – auch in schweren Zeiten – und selbst dann, wenn du Opfer dafür bringen musst!“
Dieser Montag, der 29. Januar 2001, war in der Tat für uns alle – und ich bin sicher, dass ich hier für die gesamte Schulgemeinschaft, Schüler, Eltern und Lehrer spreche - ein Glücksfall, wie er sich in dieser Form kein zweites Mal wiederholen würde.
1987 gab sich das damalige Waldkircher Gymnasium – anlässlich der 100 Jahr Feier der Schule - in einer bemerkenswerten, von Schülern demokratisch durchgeführten Abstimmung, den Namen der Geschwister Scholl. Dieser Name sollte es sein - und ist es bis heute – für alle, die an dieser Schule lehren und lernen, Sinngebung und Verpflichtung zugleich: Zum einen wollten wir unsere Schüler seitdem in besonderer Weise durch die Geschwister-Scholl-Projekttage immer wieder dazu anhalten, dass sie sich mit den Werten und Zielen dieser Jugendlichen auseinandersetzen und diese Werte durch eigenverantwortliches Handeln im Alltag aktiv und glaubwürdig umsetzen. Erziehung zu Mut und Zivilcourage im Einsatz für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist darüber hinaus grundlegende Zielsetzung unserer pädagogischen Arbeit: Menschenverachtung, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Diktatur dürfen nie wieder die Oberhand gewinnen.
So wurde dann bereits 1992 die Konzeption der heutigen Geschwister-Scholl-Tage ins Leben gerufen: Keine Schülerin, kein Schüler sollte an dieser Schule Abitur machen können, ohne sich nicht mindestens einmal in seiner Schulzeit im Rahmen der Geschwister-Scholl-Tage intensiv mit dem Nationalsozialismus und seinen schrecklichen Auswirkungen auseinandergesetzt zu haben. Die Fachkonferenz Geschichte am GSG und insbesondere Ulrich Fischer-Weissberger haben diese Zielsetzung konsequent fortgeführt und weiter ausgebaut.
Ein besonders tragender Baustein innerhalb dieser Konzeption war die Einbeziehung von Zeitzeugen bei Gedenkveranstaltungen, wie der Befreiung des KZ-Auschwitz, dem Todestag der Geschwister Scholl, bei Vorträgen, Lesungen, Workshops, Podiumsdiskussionen und insbesondere aber die projektorientierte Einbindung dieser Zeitzeugen in Diskussionsforen mit Schülern im Unterricht. Das besondere und nicht hoch genug einzuschätzende Verdienst des Geschichtsprojektes unter Leitung von Herrn Fischer-Weissberger war die Dokumentation dieser Projekte in Videoaufzeichnungen, deren unermesslicher Wert sich wahrscheinlich erst dann begreifen lässt, wenn diese Zeitzeugen einmal nicht mehr unter uns sind.
Viele namhafte Persönlichkeiten konnten wir zu den unterschiedlichsten Anlässen an unserer Schule begrüßen: Frau Hildgard Hamm-Brücher, Frau Cornelia Schmalz-Jacobsen, Frau Annelise Knoop-Graf, Prof. Dr. Manfred Messerschmidt (Freiburg), Brigadegeneral a.D. Winfried Vogel, KZ- und Ghettoüberlebende wie Prof.Dr.h.c. Arno Lustiger, Frau Magarethe Holzmann (Kaunas/Litauen), Frau Juliane Zarchi (Kaunas), Frau Fruma Kucinskiené (Kaunas), Tobias Jafetas (Vilnius), Alexander Bergmann (Riga), Felix Rottberger (Emmendingen), Fam. Dr. Günter Fontheim mit Gattin und Tochter (USA)... und Heinz Droßel (Simonswald).
Auf Heinz Droßel ist Prof. Dr. Wolfram Wette, Historiker an der Universität Freiburg, wohnhaft in Waldkirch und durch zahlreiche Vorträge am GSG bekannt, bei seinen militärhistorischen Nachforschungen gestoßen. Er war es dann auch, der die ersten Kontakte zwischen Heinz Droßel und dem Geschwister-Scholl-Gymnasium herstellte.
Wir erinnern uns an einen Menschen, der im Mai 2000, in Yad Vashem, vom Staat Israel als „Gerechter unter den Völkern“ die höchste Ehrung für Nichtjuden erhielt, die der israelische Staat vergibt.
Im September 2001 wurde Heinz Droßel vom damaligen Bundespräsidenten Rau mit dem Bundesverdienstkreuz (Retter in Uniform) ausgezeichnet.
Im Oktober 2004 ist er als erster Nichtdeutscher durch die Universität Ann Arbor–Michigan(USA) mit der Raoul-Wallenberg-Medaille ausgezeichnet worden.
Im Januar 2006 erhielt die Zivildienstschule Seelbach offiziell den Namen: Zivildienstschule Seelbach, Heinz Drossel Bildungszentrum.
Herr Fischer-Weissberger hatte bereits im Jahre 2002 gemeinsam in enger Zusammenarbeit mit Heinz Droßel und seinen Schülern aus dem Geschichtsprojekt und unter Einbeziehung von Originalschauplätzen in Berlin den Dokumentarfilm: „Heinz Droßel – ein Mensch in schrecklicher Zeit“ fertiggestellt und damit einen besonders nachhaltigen Prozess des Interesses von Schülern an der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus ausgelöst, der bundesweit Beachtung fand. Bereits ein Jahr später, 2003, im Rahmen der Geschwister-Scholl-Tage und anlässlich des 60. Todesjahres der Hinrichtung der Geschwister-Scholl wurde mit der Filmdokumentation: „Günther Fontheims Leben in der Illegalität“ die konsequente Aufbereitung jüdischen Lebens in dieser furchtbaren Zeit fortgesetzt. Die vierköpfige Familie Günther Fontheims wurde 1945 von Heinz Drossel vor dem Zugriff der Gestapo in Berlin gerettet. Wiederum ein Jahr später, zum Auschwitz Gedenktag 2004, richtete sich der Fokus erstmals auf Judenverfolgungen und Ghettoüberlebende aus den Baltischen Staaten. Parallel hierzu berichteten Waldkircher Schüler durch Wort und Bild über den Völkermord in Litauen unter dem Kommando des SS-Standartenführers Karl Jäger, einem Waldkircher Bürger. 2005 folgte ein weiterer Film zum Holocaustgedenktag: „Arno Lustiger und Heinz Droßel erinnern sich“. In Gesprächen mit Schülern während des Unterrichts tauschten die beiden Männer, die bei diesem Anlass zu Freunden wurden, ihre gegenseitig gemachten grausamen Erfahrungen und Erlebnisse während der nationalsozialistischen Vergangenheit aus: Arno Lustiger, der mehrere KZ und Todesmärsche überlebte, war Hauptredner im Deutschen Bundestag zum Holocaustgedenktag 2005. Im gleichen Jahr brachten die Schüler des Geschichtsprojektes eine Videodokumentation unter dem Titel: „Nazibilder im Waldkircher Rathaus“ heraus, in welcher Heinz Droßel wiederholt sein kompromissloses Eintreten gegen jegliche Form von Verherrlichung und Verharmlosung des Nationalsozialismus öffentlich unter Beweis stellte.
In der Tat war die Begegnung im Januar und die sich anschließende innige 8-jährige Verbundenheit von Heinz Droßel mit dem Geschwister-Scholl-Gymnasium ein Glücksfall für die gesamte Schulgemeinschaft. Denn von diesem Tag an war er aus unserem Schulalltag, bei unseren Schülern nicht mehr wegzudenken: Er war ihnen zum Vorbild geworden, wenn es darum ging, Zivilcourage zu zeigen und sie engagiert bis zum heutigen Tag zu praktizieren und vorzuleben.
Heinz Droßel hatte in den vielen Diskussionen mit unseren Schülern durch sein Verhalten deutlich gemacht, wie wichtig es ist – auch in der heutigen Zeit – und vielleicht gerade wieder – persönliche Verantwortung zu übernehmen, eben nicht wegzuschauen und sich einmal für das als richtig Erkannte auch einzusetzen. Sich auch heute noch für die Schwachen und zu Unrecht Diskriminierten in unserer Gesellschaft einzusetzen und uns dafür den Blick zu schärfen.
Aber auch für Heinz Droßel selbst bedeutete dieser Januar 2001 - wie er später immer wieder versicherte – eine Zäsur in seinem Leben und der Beginn eines fruchtbaren, einmaligen und so nie mehr wiederkehrenden Gedankenaustausches und Dialoges zwischen unseren Schülern und eines noch lebenden Zeitzeugen, eines Menschen, der nach langem Schweigen es sich zur Aufgabe machte, tausenden, ja zehntausenden von Jugendlichen in ganz Deutschland, authentisch und glaubwürdig aus seinem Leben über die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte zu berichten. Er verstand es wie kein Zweiter sich sein Herzensanliegen in vielen Vorträgen und Diskussionen mit Schülern zur Lebensaufgabe zu machen, nämlich die Erinnerung wach zu halten an die Millionen Männer, Frauen und Kinder, die durch das nationalsozialistische Regime entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden.
Durch sein vorbildliches Verhalten konnte er überzeugend und glaubwürdig immer wieder unsere Schülerinnen und Schülern am GSG motivieren, sich mit den Gefahren von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit auseinanderzusetzen und sich mehr für Menschenrechte, Toleranz und Akzeptanz des Anderen einzusetzen, damit sich diese schlimmen Zeiten nicht noch einmal wiederholen können. Für unsere Schülerinnen und Schüler hatten die Gräueltaten und Verbrechen der Nationalsozialisten durch die Berichte von Heinz Droßel ein Gesicht bekommen, das sich bei vielen unauslöschlich als verabscheuungswürdig eingeprägt hatte!
Unzählige Male und immer wieder gerne besuchte er das Geschwister-Scholl-Gymnasium, wo ihm die Schülerinnen und Schüler besonders ans Herz gewachsen waren und die er stets mit „Meine Freunde“ ansprach, bis er schließlich selbst einer von den Ihren geworden ist. Diese tief empfundene Verbundenheit und Ehre, die er uns spürbar zuteil werden ließ, erfüllte uns mit besonderem Stolz und unendlicher Dankbarkeit. Diese Verbundenheit ist uns aber auch Verpflichtung, sich immer wieder an die Werte und moralische Gesinnung zu erinnern, die uns dieser großartige Mensch Heinz Droßel als Vermächtnis hinterlassen hat.
Wir als Schule haben ein Portrait von Heinz Drossel neben dem Portrait der Geschwister-Scholl beidseits des zentralen Treppenaufganges so angebracht, dass jede Schülerin, jeder Schüler, die Eltern und Lehrer dieser Schule, wie die vielen ausländischen Schüler und die sie begleitenden Lehrer aus USA, Frankreich und Spanien, mit denen wir über Jahrzehnte über Schüleraustauschprogramme freundschaftlich verbunden sind, beim Betreten des Gymnasiums an die Persönlichkeiten erinnert werden, die den Geist dieser Schule ganz entscheidend mitgeprägt haben und es weiterhin tun. Wir, die gesamte Schulgemeinschaft, die ihn kannten, zollen diesem mutigen und aufrichtigen Mann unseren uneingeschränkten Respekt. Wir werden diesen ungewöhnlichen Menschen Heinz Droßel niemals vergessen.
2. Februar 2009